Am 15. Juni 2023 rasten mehr als 1,3 Millionen Kubikmeter Fels und Erde auf das Schweizer Alpendorf Brienz zu. Aber anstatt dessen Bewohner im Schlaf zu überraschen, traf der Erdrutsch nur noch leerstehende Häuser und Gebäude. Das Dorf war in dem Moment evakuiert worden, als präzise und umfassende Überwachungsdaten signalisierten, dass der Erdrutsch unmittelbar bevorstand.
Dank hybrider Ansätze verschiedener Hexagon-Technologien gelang es, den in Bewegung geratenen Berghang mit hoher Detailgenauigkeit und Frequenz zu messen. Anhand dieser von geologischen Experten interpretierten Informationen, konnten die örtlichen Behörden rechtzeitige Warnungen aussprechen, Straßen sperren und schließlich Evakuierungen durchführen, um alle 84 Einwohner von Brienz in Sicherheit zu bringen.
BERGRUTSCH AM RANDE VON BRIENZ
Die Alpen entstanden durch Auffaltung, als die kontinentalen Platten Afrikas und Eurasiens über Millionen von Jahre langsam aufeinander zu drifteten, und diese Bewegung formt das Gebirsgsmassiv weiterhin um. Veränderungen resultieren aus Klimafaktoren, wie Niederschlag und Schneeschmelze oder aus geologischen Gründen, wie Erosion, Gesteins- und Bodenbeschaffenheit sowie seismische Aktivität.
Brienz, ein malerisches Alpendorf im Schweizer Kanton Graubünden, liegt in 1.150 Meter Höhe zwischen dem Gipfel des Piz Linard und dem Fluss Albula. Die klassische Schweizer Architektur steht im Kontrast zu unzähligen Grüntönen, die nur durch das Felsenpanorama über der Stadt unterbrochen werden.
Andreas Huwiler, Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten in Graubünden sagt dazu: „Das Gebiet ist geologisch betrachtet sehr interessant, weil es viele Gesteinskombinationen gibt, die auf sehr komplexe Weise interagieren oder reagieren, und deshalb Vorhersagen über künftiges Verhalten schwierig machen.“
Die Gemeinde Brienz hat seit langem die Gesteinsveränderungen am Hang über dem Dorf verfolgt und Bewegungsanzeichen in Form von großen Rissen in Straßen und Gebäudefassaden beobachtet. Stark zunehmende Bewegungen in den 2000er Jahren machten jedoch eine präzisere und dichtere Datenerhebung erforderlich.
VERBESSERTE ÜBERWACHUNGSTECHNIKEN LIEFERN ENTSCHEIDENDE DATEN
Von anfänglich manueller Messung bis hin zur Installation mehrerer automatisierter Systeme, die umfassende Daten im Zusammenspiel liefern, hat sich das Überwachungskonzept in Brienz im Laufe der Zeit bedarfsgenau weiterentwickelt. Technologien und Dienstleistungen von Hexagon lieferten in jeder Phase die entsprechenden Daten.
„Die Instabilität des Gesteins stieg in den letzten zehn Jahren deutlich an, sodass wir auch das Überwachungskonzept kontinuierlich erweitert haben“, sagt Huwiler. "Begonnen haben wir mit von Hand durchgeführten Rissmessungen. Wir sind dann schnell zu einer Totalstation übergegangen, die Reflektoren oder feste Punkte für Distanzmessungen misst.“
In dieser frühen Phase erfolgten periodische Messungen von einem Experten vor Ort mit einer Robotic Totalstation von Leica Geosystems, um Bewegungen durch Abweichungen von den Baseline-Messungen zu identifizieren.
Die Totalstation wurde 2009 in Brienz installiert und ist seitdem in Betrieb.
„Diese Totalstation arbeitet natürlich sehr präzise und liefert klare Resultate. Das System wurde 1998 gebaut, ist also dieses Jahr 25 Jahre im Dienst und wir hatten aufgrund seiner hohen Zuverlässigkeit keinen Grund, es zu ersetzen“, reflektiert Christian Vetsch, Mitglied der Geschäftsleitung der HMQ Geomatik AG und Teil des Projekt-Vermessungsteams.
Zunehmende Bewegungen allerdings machten eine häufigere Datenerfassung mit einem automatisierten System erforderlich. Durch ein zusätzliches Kommunikationsgerät und den Anschluss der Totalstation an die Monitoring-Lösung Leica GeoMoS wurden Messungen automatisch erfasst, übertragen und analysiert. Anhand des Daten-Outputs konnten Experten feststellen, wie schnell und in welche Richtung sich der Fels bewegte.
ÜBERWACHUNG IN ECHTZEIT MIT RADAR UND BILDGEBENDEN SYSTEMEN
Im Jahr 2019, als die Daten der Totalstation zeigten, dass die Aktivitäten am Hang wieder zunahmen, wurden Radar und bildgebende Monitoring-Systeme ergänzt, um Daten in Echtzeit zu erhalten. Alpine Überwachungsexperten von Geoprevent, ein Unternehmen von Hexagon, schlossen sich dem Projekt an, um ein Überwachungskonzept zu entwickeln, installieren und zu betreiben, das ergänzend zu den Messungen der Totalstation Radar und bildgebende Sensoren einsetzt.
Für Andreia Farrér von Geoprevent, Consultant für Überwachungslösungen, der an dem Projekt gearbeitet hat, war es nicht nur ein interessantes, sondern auch ein persönliches Anliegen: „Von meinem Schlafzimmerfenster aus konnte ich während meiner gesamten Kindheit den Hang beobachten“, sagt er. "Deshalb war es für mich etwas ganz Besonderes, an diesem Projekt zu arbeiten."
Geoprevent installierte zwei interferometrische Radarsysteme und Deformationskameras, um das Gebiet umfassend und permanent zu überwachen. Daten zu Verschiebungen im Submillimeterbereich lieferte ein bodengestütztes interferometrisches Radar von IDS GeoRadar, ein Unternehmen von Hexagon. Über Remote-Messung räumlicher Daten beobachtet das Radar die Phasenänderungen reflektierter Mikrowellen und vergleicht die Messungen, um Verformungen zu berechnen und zu erkennen.
„Im Vergleich zu anderen Methoden bietet ein Radar den Vorteil, zu jeder Tageszeit und bei jeder Witterung wie Nebel, Schnee oder Regen, Messungen durchführen können", erklärt Farrér. „Dies stellt sicher, dass die aktuellsten Informationen jederzeit verfügbar sind.“
Zusätzlich nahmen Deformationskameras Bilder der Felswand in Hochauflösung auf, verfolgten deren unterschiedliche Pixelgruppen und maßen die Deformation basierend auf deren Verschiebungen.
„Wir stellen diese Messdaten dann allen beteiligten Spezialisten zur Auswertung zur Verfügung, insbesondere dem Team, das für die Frühwarnung verantwortlich ist“, sagt Farrér.
Geoprevent macht diese Daten den Experten über ihr Online-Portal zugänglich, wo die Messungen hochgeladen, verarbeitet und visualisiert werden, um jederzeit einen Überblick aller Daten in Echtzeit zu erhalten.
„Echtzeitdaten sind für uns so wichtig“, fährt Farrer fort, „weil wir die Entwicklung oder mögliche Veränderungen am Berg so früh und so schnell wie möglich erfassen wollen, damit die Behörden Sicherheitsmaßnahmen wie Straßensperren oder, wie in diesem Fall, eine umgehende Evakuierung in die Wege leiten können.“
HOHE SOLIDARITÄT FÜR DIE BEVÖLKERUNG VON BRIENZ
Ende März stellten die Experten fest, dass ein Bergsturz unmittelbar bevorstand. Die Einwohner von Brienz mussten auf eine Evakuierung vorbereitet werden.
„Wir haben kurz vor Ostern gesehen, dass sich die 'Insel', ein besonders beweglicher Teil des Hangs, bald vom Berg lösen und in Richtung Brienz stürzen würde,“ erinnert sich Christian Gartmann, Medienvertreter der Gemeinde.
Die Bewohner hörten auf die dramatischen Warnungen der Behörden und packten ihre Habseligkeiten, während die Bauern auch ihre Tiere in Sicherheit brachten. „Am Abend des 8. Mai war das Dorf menschenleer und alle Tiere waren in Sicherheit gebracht.“ „Ein unheimliches Szenario“, sagt Gartmann. „Wir wussten nicht, was passieren und wie lang die Evakuierung dauern würde.“ Brienz hätte beschädigt oder komplett zerstört werden können. Diese Unsicherheit war für die Betroffenen sehr belastend.
Jedoch gab es landesweit eine Welle der Unterstützung für die evakuierte Gemeinde.
„Die Solidarität war enorm“, sagt Gartmann. „Sobald wir realistisch über eine Evakuierung sprechen mussten, erhielten wir sofort Hilfsangebote von den Nachbargemeinden, aber auch aus dem gesamten Kanton und schweizweit.“ „Es mussten 84 Personen aus dem Dorf evakuiert werden – angeboten wurden uns über 130 Häuser.“
Als der Einsturz begann, ergossen sich die Geröllmassen auf eine Straße, die an Brienz grenzt, und kamen kurz vor dem Dorf zum Stillstand – Brienz blieb unversehrt. Anschließend wurde die Hangüberwachung fortgesetzt, um festzustellen, wann die Stabilitätswerte eine Rückkehr der Dorfbewohner zulassen würden. Ab Ende Juni konnte mit einer schrittweisen Rückkehr der erleichterten Bewohner begonnen werden.
Als Partner bei diesem Vorhaben stellte Hexagon Solutions dem Team in Brienz die benötigten Informationen in Echtzeit zur Verfügung, um rechtzeitig Maßnahmen ergreifen zu können, einschließlich Evakuierung und Entwarnung zur Rückkehr. Das Monitoring bewahrt einen rutschenden Berghang nicht vor dem Einsturz, es ermöglicht aber datenbasierte Entscheidungen, um diejenigen zu schützen, die sich in der Gefahrenzone befinden.
Die Überwachung für Brienz ist nicht zu Ende, da Hanginstabilitäten weiterhin ein Risiko darstellen. Die Gemeinde kann jedoch darauf vertrauen, dass zuverlässige Daten in den Händen von Experten weiterhin Orientierung bieten, um erfoderliche Maßnahmen rechtzeitig einleiten zu können.